Letzte Fragen

Es ist Heiligabend. Ruben und ich fahren zum Friedhof, um nach dem Familiengrab zu sehen. Nachdem wir zwei Grablichter angezündet haben, schmücken wir die Grabstelle, indem wir lauter einzelne Rosen in die lockere Erde stecken. Eine davon vor Jürgens Grabstein. „Mein Bruder ist schon mit vier Monaten gestorben“, erkläre ich Ruben.

Warum denn?, fragt mein Sohn.
– „Er hatte Krebs. Das ist eine schlimme Krankheit, an der viele Menschen sterben. Bei Kindern ist das ganz selten, aber wenn die Leute ganz alt werden, sterben sie irgendwann alle an Krebs.“
Ich sterbe nie.
„Das wäre schön. Ich möchte auch nicht, dass du stirbst.“
Ich werde tausend oder hundert Jahre alt.
– „Nur ganz wenige Leute werden hundert Jahre alt. Aber vielleicht wirst du ja so alt. Der Onkel Heinz ist auch über hundert Jahre alt und lebt immer noch“, erwidere ich, während ich das Dutzend Rosen nach Gutdünken über die Grabstelle verteile.

Wer liegt da?, fragt Ruben und deutet auf die Stelle ganz vorne, wo ich gerade eine Blume in die Erde gesteckt habe.
– „Ich weiß nicht, wer genau wo liegt. Manche Leute sind nach dem Tod auch verbrannt worden, weil sie das so wollten. Da liegt dann nur eine Urne mit der Asche in der Erde. Andere wollen lieber in einem Sarg begraben werden.“
Ich möchte auch verbrannt werden.
„Das kannst du später selber entscheiden, aber jetzt lebst du erst mal ganz, ganz lange“, erwidere ich und wechsle das Thema: „Soll ich dir mal vorlesen, wer da alles liegt?“
Ja.

Ich lese die Namen auf der großen Marmorplatte vor, die am hinteren Ende des Familiengrabs an der Friedhofsmauer befestigt ist, und erzähle ein bisschen was von den diversen Vorfahren.
Wenn alle sterben, wo kommen dann die neuen Menschen her?, fragt Ruben. Dann sind ja irgendwann keine Menschen mehr da!
– „Es werden immer wieder neue Menschen geboren und andere sterben eben“, erkläre ich und erzähle von der Uroma, die kurz vor seiner Entstehung gestorben sei. „Erst war ich traurig, dass meine Oma gestorben ist, und dann habe ich mich gefreut, dass du auf die Welt gekommen bist.“

Nun will Ruben noch wissen, wie die vielen Namen auf die Grabplatte kommen.
– „Das hat ein Steinmetz gemacht, ein Bildhauer“, erläutere ich. „Das ist eine ganz aufwendige Kunst.“
Ruben ist mit der Antwort zufrieden, hat aber noch eine letzte Frage: Müssen die Leute, bevor sie sterben, noch schnell sagen, wie sie heißen?

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