Piratentagebuch

Die letzten zwei Wochen waren nicht nur ziemlich verregnet, sie standen auch im Zeichen ständiger Arztbesuche. Zunächst musste der kleine Rubelmann zur Augenärztin nach Würzburg. Die gute Nachricht: Mein Sohn hat (im Gegensatz zu mir) räumliches Sehen. Die schlechte Nachricht: Ruben muss bis auf Weiteres mit einem Pflaster vor dem Auge herumlaufen.

Das musste ich als Dreijähriger auch – nur dass es damals nicht so schöne bunte Piratenpflaster gab wie heute. Meine Pflaster waren hässlich und braun oder grau-weiß. Ruben hingegen kann aus einer großen Zahl verschiedener Motive auswählen. Was er jeden Morgen begeistert tut. Abends nehmen wir das Pflaster dann ab (was anfangs weniger auf Begeisterung stieß: Pflasterabnehmen tut weh!) und kleben es in ein kleines Heft. Papa schreibt das Datum dazu und ein paar Stichworte, was wir an dem Tag gemacht haben. Wenn das Heft voll ist, gibt es eine Belohnung.

Doch kaum hatte sich Ruben an die Pflaster gewöhnt, kamen neue Zumutungen hinzu: Weil er in den ersten drei Lebensjahren häufig Mittelohrentzündungen hatte, hatten wir uns schon vor längerer Zeit entschlossen, die dafür verantwortlichen stark vergrößerten Rachenmandeln („Polypen“) entfernen zu lassen – wofür sich der Sommer anbot. Und weil der Arzt eine Koryphäe auf seinem Gebiet ist und ein praktischer Mensch, sagte er: „Die rechte Gaumenmandel ist auch zu groß. Die schleif ich etwas ab. Das geht in einem Aufwasch.“

Wir gingen also Montag Morgen in Lohr zum Bluttest, fuhren Dienstag Nachmittag zum OP-Vorgespräch nach Würzburg in die HNO-Praxis und Donnerstag in aller Herrgottsfrühe noch einmal nach Würzburg zur Rotkreuz-Klinik, wo der Eingriff vorgenommen werden sollte.

Der Dienstag war noch recht lustig. Da Ruben am Abend vorher einen gefühlt halbstündigen Tobsuchtsanfall hingelegt hatte, war seine Stimme rau wie Raspel. Trocken professionell meinte der HNO-Spezialist: „Typisch für Jungs in diesem Alter. Das sind sogenannte Schreiknötchen. Bei Sängern würde man sagen: Stimmknötchen. Das heilt in der Regel nach ein paar Tagen wieder ab.“

Anschließend mussten wir noch in die Klinik und uns beim an der OP beteiligten Anästhesisten vorstellen. Ruben nutzte die Gelegenheit, um seine Schreiknötchen in Form zu halten. Sein Auftritt im Vorraum des OP-Saals war so beeindruckend, dass anschließend ein ebenfalls wartender Vater auf mich zukam und sagte: „Ich ziehe meinen Hut vor Ihnen, wie geduldig Sie mit Ihrem Sohn waren – ich hätte das nicht gekonnt.“ Wer mich kennt, weiß, wie mich das amüsiert hat. Zugegeben: Ich hatte einen guten Tag.

Der Donnerstag kam. Zu viert erreichten wir pünktlich um acht Uhr die Klinik. Meine Frau checkte mit Ruben ein, ich schaukelte das andere Kind, Anatol (acht Wochen alt). Da nur je ein Elternteil beim Einschlafen und Aufwachen dabei sein darf (der Eingriff findet unter Narkose statt), entschieden wir, dass meine Frau Ruben in den OP-Saal begleitete, und ich ihn im Aufwachraum abholte.

Es zerriss mir das Herz, meinen kleinen Rubelmann so leiden zu sehen. Röchelnd lag er da in seinem Bett, noch völlig unter Drogen, das grüne Krankenhausleibchen blutverschmiert, über dem Mund eine Atemmaske. Als er aufwachte, weinte er schrecklich. Ich holte ihn aus seinem Krankenbett und nahm ihn in den Arm. Irgendwann ließ die Drogenwirkung nach, und wir durften auf Station.

Als alles vorbei war, bekam Ruben eine Tapferkeitsurkunde. Die hätte allerdings auch Anatol verdient gehabt. Gnädigerweise verlangte er zwischen sieben und zehn Uhr kein einziges Mal nach der mütterlichen Brust. Erst als der große Bruder verarztet war, machte er auf sich aufmerksam.

Wir fuhren zurück nach Lohr, beide Kinder schliefen. Ruben war den ganzen Tag über ziemlich matschig, kein Wunder. Abends dann das dicke Ende: Ruben fragte zum ersten Mal nach Hexi. Wir hatten ihm nichts von ihrem Tod gesagt, geschweige denn, dass sie eingeschläfert worden war. Er hatte nicht gefragt und die Abwesenheit des Hundes nicht kommentiert, also hatten wir nichts gesagt. Das rächte sich nun.

„Die Hexi ist gestorben“, sagte ich tapfer. „Alle Hunde müssen irgendwann einmal sterben. Und die Menschen auch“, fügte ich unglücklicherweise hinzu. Da schluchzte Ruben auf: Ich will aber nicht sterben!

Diese Worte aus dem Mund seines dreieinhalbjährigen Sohnes zu hören, war fast noch schlimmer als ihn unter Narkose zu sehen. „Das musst du doch auch noch nicht“, beeilte ich mich zu versichern. „Bis du stirbst, das dauert noch ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz-ganz lange.“

Angesichts der vielen Ganze musste mein Sohn lachen, doch bald schon wieder wurde er von Tränen geschüttelt. Dann musste er aufs Klo. Verstört saß er auf seinem Kindertoilettensitz und schaute traurig vor sich hin. Ich will aber nicht sterben! brach es abermals aus ihm heraus.

Es wurde eine lange Nacht. Alle fünf Minuten wachte Ruben auf und weinte. Halsweh, postnarkotischer Schwummschädel, Nichtsterbenwollen. Wir hatten kein kindgerechtes Schmerzmittel im Haus (Ibuprofensaft mit Erdbeergeschmack zum Beispiel), nur Zäpfchen. Die wollte Ruben aber nicht. Und nach dem, was er durchgemacht hatte, wollten wir ihm auch keines gewaltsam einführen. Also lag ich zwischen zwölf und sechs bei meinem Sohn auf dem Schlafsofa, den Arm um ihn gelegt und litt mit ihm.

Am nächsten Morgen musste ich früh raus, um zur Jahrestagung des Verbands der Literaturübersetzer nach Wolfenbüttel zu fahren. Es war schön, all die vielen netten Kollegen wieder zu sehen. Es war ein lebendiges Fest mit vielen guten Gesprächen. Aber der Satz Ich will nicht sterben! hallte noch lange nach.

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