Ich kenne ihren Namen nicht, also nenne ich sie Madame Vinçotte. Denn getroffen habe ich sie vor dem Altersheim an der Rue Thomas Vinçotte. Jeden Morgen, wenn ich von der Kita zurückkam, sah ich sie versunken in ihrem Rollstuhl sitzen, Zigarette in der Hand, mürrisch vor sich hinstarrend. Doch sobald ich sie begrüßte, ging in ihrem Gesicht die Sonne auf.
Ihr verhalten-spöttisches, fast zärtliches Lächeln erinnerte mich immer an den großen österreichischen Schauspieler Hans Brenner (auf den Bunte-Artikel verlinke ich nur, weil Hans Brenner da genau diesen Gesichtsausdruck hat, den ich meine…). Sie musste einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein und ging jetzt bestimmt auf die neunzig zu.
Worüber sie wohl nachgrübelte, wenn sie da saß? Dachte sie an die schönen und die schlimmen Dinge, die sie erlebt hatte – oder wartete sie nur stumm auf den Tod? War das Lächeln eines Passanten schon der Höhepunkt ihres Tages – oder bekam sie noch regelmäßig Besuch? Wenn sie mich anstrahlte, war mein einsamer Expat-Vormittag gerettet, und ich redete mir ein, dass mein Lächeln auch ihren Tag verschönerte.
Jeden Tag nahm ich mir vor, einen kleinen Text über diese morgendlichen Begegnungen zu schreiben, doch es kam nie dazu.
Und auf einmal war Madame Vinçotte verschwunden. Als sie auch nach Monaten nicht mehr auftauchte, vermutete ich, dass sie gestorben sei, und war ein bisschen traurig.
Doch heute dann die freudige Überraschung: Pünktlich zum Frühlingsanfang sitzt sie wieder vor dem Rusthuis „Albert de Latour“ , eine Dame im weißen Strickpullover, zieht an ihrer Zigarette und lächelt mich aus ihrem Rollstuhl heraus an.
Die Sonne geht auf.