Allein mit Dr. Palindrom

Da stand ich also in der ehemaligen Zahnarztpraxis von Dr. Lambert, in der nun offensichtlich Dr. Vorwärts-wie-Rückwärts arbeitete. Mein Dr. Palindrom war, wie sich herausstellte, Libanese. Er sah aus wie ein immermüder entfernter Cousin von George Clooney. Die Müdigkeit ließ sich leicht erklären: Der Dentalspezialist fing morgens um acht an Zähne zu sanieren, arbeitete bis abends um neun und pendelte dafür Tag für Tag zwischen seiner Praxis in Etterbeek und einer Privatklinik in Namur (60 Kilometer südöstlich von Brüssel), wo er ebenfalls Patienten hatte.

Und er machte alles selber: Tür aufmachen, ans Telefon gehen, Spritze aufziehen. Es gab keine freundlich lächelnde Zahnarzthelferin, die einem mit sanftem Händedruck beruhigte und den Aufenthalt im Behandlungsstuhl versüßte. Und auch im Wartezimmer – das immerhin drei Sitzgelegenheiten bot – wartete niemand. Ich war allein – allein mit Dr. Palindrom. Niemand würde meine Schreie hören.

Niemand würde meine Schreie hören

Doch mein neuer Zahnarzt machte seine Sache gut. Zunächst erklärte er mir, dass er meinen wehen Zahn röntgen musste und dass das zehn Euro kosten würde. Soviel Transparenz fand ich schon mal gut. Dann zeigte er mir auf der Röntgenaufnahme die kariöse Stelle und schritt zur Tat.

Als ich genügend betäubt war, deponierte er seinen Absaugeschlauch in meinem Mund und rührte erst einmal die Pampe für die provisorische Füllung an. Da wir beide nicht reden konnten – er mangels Englisch-Kenntnissen, ich aufgrund eines röchelnden Gummikabels in meinem Mund – fiel der Smalltalk aus. Als mein Rachen eine Viertelstunde später trockengefönt war und ich kurz vor der Maulsperre stand, ging es weiter.

Schweigend verrichtete der Libanese seine Arbeit

„Open up!“, wies mich Dr. Palindrom an. „Wie denn?“, dachte ich verzweifelt und mühte mich, meine Kiefer in die gewünschte Position zu dirigieren. Schweigend verrichtete der Libanese seine Arbeit. Er wirkte sehr bedächtig und konzentriert. Ich vertraute ihm.

„Up, up! Open up!“ Dr. Palindrom spachtelte die temporäre Füllung in meinen offenen Zahn, ließ mich auf einem Stück Papier kauen – „Bite down!“ – und erklärte mir die Optionen: Kunststoff-Füllung, Keramik, Gold.

Die Optionen: Kunststoff, Keramik, Gold

Dr. Palindrom empfahl Kunststoff, ich entschied mich für Keramik und bat um die Rechnung. In Belgien zahlt man immer nach der Behandlung gleich in bar. Je nach Art und Dauer der Behandlung in der Regel zwischen 25 und 50 Euro, wenn kein schweres Gerät aufgefahren werden muss. Der Arzt kritzelt irgendetwas auf einen Quittungsblock und bescheinigt den Erhalt des Rechnungsbetrages. Diese Quittung reicht ein Belgier dann bei seiner Krankenversicherung ein und bekommt im Normalfall 75% des Betrags wiedererstattet.

Weil ich die Rechnung bei meiner deutschen Krankenversicherung einreichen wollte, brauchte ich es etwas genauer. Dr. Vorwärts-wie-Rückwärts sah mich aus müden Augen an (mittlerweile war es deutlich nach 21 Uhr), ging zu seinem Schreibtisch und machte seinen Rechner an.

Consultation urgente pour douleurs au niveau de la 26

Er öffnete ein leeres Worddokument, schrieb seinen Namen und seine Adresse an die Stelle, wo er den Briefkopf vermutete, machte ein paar Leerzeilen und tippte dann ein

14/02/2011: Consultation urgente pour douleurs au niveau de la 26   23euros
Radiographie intrabuccale de la 26                                   15euros

TOTAL                                                                              38 euros

(die Formatierung erledigte er per Leertaste, wodurch sich obige Choreografie ergab)

Ich wandte vorsichtig ein, dass es vielleicht ganz gut wäre, wenn er auch meinen Namen irgendwo vermerkte. Das leuchtete ihm ein. „Anything else?“ fragte er, und ich meinte, eine leise Ironie in seiner Stimme wahrzunehmen.

Wir verabredeten einen Termin für die Einsetzung des Keramik-Inlays, dessen Kosten der Doktor auf rund 350 Euro taxierte, und hatten beide kurz nach halbzehn Uhr nachts endlich Feierabend.

Erste Risse

Als ich zehn Tage später wiederkam, sieben frische 50-Euro-Scheine in der Tasche, erklärte mir Dr. Palindrom die Zusammensetzung der Kunststoff-Füllung. „Moment mal, wir hatten doch Keramik gesagt!“, sagte ich. (Es klang in Wahrheit etwas zaghafter, im Englischen ist man höflicher…)  Der Doktor sah mich verständnislos an: „But ceramic breaks easily!“ Kurzentschlossen machte er Aufnahmen von meinen beiden bereits keramisierten Zähnen und zeigte mir die feinen Risse in den kaum fünf Jahre alten Inlays.

Whatever, dachte ich und begab mich vertrauensvoll in Captain Ahabs capable hands.

Fortsetzung ungewiss

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Eine Antwort zu Allein mit Dr. Palindrom

  1. Muyserin schreibt:

    You have me riveted …

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